Offener Brief an die Bio-Branche

Offener Brief an die Bio-Branche

Am Donnerstag, 27.6., hat die 57. und größte Bio Company-Filiale Berlins eröffnet – nur 170 m von uns entfernt, auf der gleichen Straßenseite. Wir vermissen eure Empörung, genauso wie ein klares Statement aus der Branche, gegen deren Werte ein solch rücksichtslos kapitalistisches Verhalten aus unserer Sicht ganz klar verstößt.

Wir, das sind Nadia Massi und ich, Elke Dornbach, (sowie 8 Mitarbeitende) mit dem interkulturellen Kiez-Bioladen & Café Bioase44. Gegründet mit dem Leitbild, einen Gemeinschaftsort zu schaffen, der den Menschen im Kiez ein Stück Heimat jenseits des Nationenbegriffs bietet. Für uns steht Bio für eine weltanschauliche politische Grundhaltung, die alle Menschen mitnimmt auf dem Weg in eine wertschätzende und gerechte Zukunft. Wir haben mit 125 qm eine Ladengröße gewählt, die groß genug ist, um ein vielfältiges Sortiment anzubieten und klein genug, um Begegnung zu ermöglichen.

Ein solidarisches Mitgliedsmodell und ein Café mit Mittagstisch sind Bestandteil des Konzepts. Und: wir duzen unverschämt :-). Als wir 2012 eröffnet haben, waren wir in diesem Kiez Pionierinnen. Einen Monat nach uns startete das Vegan-Kollektiv Dr. Pogo am Karl-Marx-Platz. Inzwischen ist der Standort von mehreren Filialen der beiden Bio-Supermarktketten Bio Company und denn’s umringt. Das ist jetzt nichts wirklich Neues, sagt ihr vielleicht, außer, dass diese Bio Company-Filiale einem kleinen Bioladen noch näher auf die Pelle gerückt ist.

Außer, dass sich rechts und links von uns doch eh schon zwei denn’s-Filialen breit gemacht haben und Bio Company die größte Filiale nun genau dazwischen gesetzt hat. Machtkampf um die Marktführung – da gibt’s nunmal Kollateralschaden. Das stimmt. Die Geschichte kennen wir alle, sie reproduziert sich immer wieder neu und wird mal missbilligend, mal resigniert, aber tendenziell als normale Entwicklung innerhalb unserer gegenwärtigen Gesellschaft hingenommen. Es ist erschreckend, mit welch einer Gleichgültigkeit und Ernüchterung hingenommen wird, dass die Vielfalt der Berliner Biolandschaft immer mehr abnimmt.

Und das in einer Zeit, in der es um ein Umdenken geht, hin zu Diversität und einem ressourcenschonenden Umgang und zwar in allen Bereichen der Bio-Branche – nicht um kurzfristigen Profit durch sinnlose Expansion. Wir vermissen eure Empörung, genauso wie ein klares Statement aus der Branche, gegen deren Werte (siehe z.B.: https://n-bnn.de/bnn-kodex) ein solch rücksichtslos kapitalistisches Verhalten aus unserer Sicht ganz klar verstößt.

Und wir fragen uns, wie es sein kann, dass der eigene Beitrag an dieser Entwicklung von der Branche so sehr verdrängt und so wenig reflektiert wird. Die Biosupermarktketten expandieren nicht im luftleeren Raum, sie werden von vielen von euch dabei unterstützt. Wir sagen nur Warenrückvergütungen, Rabatte, Marketingunterstützung, Ladenausstattung durch Hersteller, große Kredite von Ökobanken etc. Genau das schafft den Filialisten doch erst die Möglichkeit, so aggressiv zu wachsen und solch erbitterte Machtkämpfe zu führen.

Natürlich verschafft das vielen Herstellern erstmal einen deutlich höheren Absatz. Aber ist das sinnvoll? Ist das weitsichtig? Müssen wir um jeden Preis Profit generieren? Ist es in Ordnung, dafür die kalkulierte Verschwendung von Lebensmitteln und Energie zu tolerieren? Versteht uns nicht falsch, wir sind keineswegs der Meinung, es dürfe keine Biosupermärkte oder auch -ketten geben. Aber es läuft was falsch, wenn diese die gleichen Mechanismen anwenden wie der konventionelle Bereich. Natürlich müssen wir alle auch ökonomisch denken und handeln.

Aber doch bitte im Einklang mit unseren Werten und nicht um jeden Preis. Es hat für uns nichts mit fairem Wettbewerb zu tun, wenn in einem gesättigten Gebiet und so nah an einem unabhängigen Laden ein großer Filialist eröffnet. Ein Filialist, der seit diesem Frühjahr durch die fast 40-%ige Beteiligung einer Schweizer Holding bei seiner Expansion finanziell unterstützt wird und der inzwischen auch einen der beiden Berliner Großhändler aufgekauft hat. Der Öffnungszeiten wie konventionelle Ketten hat, ein entsprechendes Marketing nutzt und Preiskampf betreibt.

Das ist doch kein Umgang miteinander in einer Branche, die sich in Abgrenzung vom konventionellen Handel auf gemeinsame Werte bezieht. Das hat nichts mit Zusammenhalt im Fachhandel zu tun. Meinen wir unsere Werte eigentlich noch ernst? Oder – provokativ gefragt – nutzen wir sie wie der konventionelle Markt inzwischen auch nur noch zu Marketingzwecken? Geht es uns nur noch darum, welche Begriffe gut klingen und sich noch besser verkaufen? Oder geht es uns wirklich um zu verteidigende Inhalte, die unsere Entscheidungen und unser Handeln aktiv beeinflussen, wie z.B. Transparenz und Ehrlichkeit?

Wir entwickeln Fachhandelsmarken und Eigenmarken, um uns zu profilieren und zu verschleiern, dass die Originale jetzt im LEH stehen. Paradoxerweise wird dadurch der LEH stellenweise transparenter als wir. Wir verkaufen Produkte von Herstellern, die zu großen konventionellen Konzernen abgewandert sind, ohne das zu hinterfragen bzw. wenigstens unsere Kunden darüber zu informieren. Die Förderung und der Erhalt von kleinbäuerlichen Strukturen und fairem Handel wird in der Branche gerne als wichtig hervorgehoben. Das andere Ende der Handelskette dabei vernachlässigt.

Das eine hängt doch mit dem anderen zusammen und wirkt sich unweigerlich darauf aus. Das wissen wir doch aus der Entwicklung des konventionellen Handels. Müssen wir die gleichen Fehler wiederholen? Wenn wir aus Angst vor dem konventionellen Lebensmittelmarkt unsere Werte verlieren und die gleichen Mechanismen anwenden, haben wir aus unserer Sicht bereits verloren. Dann gibt es nichts mehr, was uns unterscheidet. Die BNN-Kampagne „Öko statt Ego“ ist begrüßenswert, als Branche gemeinsam aufzutreten ist der richtige Ansatz.

Wir sollten sie nur erst mal nach innen anwenden, sonst ist sie aus unserer Sicht wenig glaubwürdig und in Gefahr, als eine weitere inhaltsleere Marketingstrategie zu verpuffen. Wir vermissen schmerzlich Gegenwind aus der Branche! Die Mittel, um zumindest ein Statement abzugeben, hätten viele von euch. Direkte Solidarität erhalten wir von den „Kleinen“ – unser Imker, der sich gegen den Vertrieb in der neuen Bio Company-Filiale entschieden hat, auch wenn ihm dadurch die Chance für mehr Umsatz entgeht. Oder das Bäckereikollektiv, das uns einen Rabatt auf unsere Rechnungen gibt.

Eine entschiedene und mutige Haltung. Die vermissen wir von euch. Stattdessen bekommen wir regelmäßig Empfehlungen, wie wir uns verändern könnten, um dem Wettbewerb standzuhalten. Wir sollen uns eine Nische suchen, größer werden, den Standort wechseln etc. Wir hätten doch Energie und Ideen. Richtig ist, dass wir fast vier Jahre Baustelle und drei neue Biosupermärkte in knapp sieben Jahren seit unserer Eröffnung geschafft haben. Dass wir ein gutes Jahr nach Abschluss der riesigen Baustelle hatten und etwas Luft holen konnten.

Wir haben uns nicht zurückgelehnt, sind immer weiter dran geblieben. Haben uns weitergebildet, verändert und sinnvoll neu investiert. Wir sind der Meinung, dass wir ein gutes Konzept und viele Menschen hinter uns haben, die das zu schätzen wissen. Aber Menschen sind auch bequem und verführbar – das wissen und kennen wir alle. Es gibt natürlich Strategien und Wege, denen wir verstärkt nachgehen könnten. Ideen haben wir, ja, aber wir sind nicht bereit, uns dafür auszubrennen.

Und uns widerstrebt die inzwischen alles durchdringende kapitalistische Wettbewerbslogik: Du musst dich nur noch mehr anstrengen, noch besser sein, dann kannst du es schaffen. Ja, es gibt unabhängige Bioläden, die es in diesem harten Wettbewerb geschafft haben; das ist schön und freut uns. Welchen Kraftakt es diese gekostet haben mag oder was für andere Umstände eine Rolle gespielt haben, sei mal dahingestellt. Aber damit die knallharten Wettbewerbsmittel zu rechtfertigen und die Verantwortung für ein Scheitern allein den entsprechenden Läden zuzuschieben finden wir falsch.

Wir wehren uns gegen diese neoliberale Normalität.Eine weitere Empfehlung, die uns nahegelegt wird, ist zu schauen, wie wir möglichst schnell rauskommen, die Reissleine ziehen, weil diese Entwicklung schon so oft zu beobachten war und mittlerweile nur noch resigniert akzeptiert wird. Noch sind wir nicht an diesem Punkt. Ob wir die Eröffnung dieser Bio Company-Filiale überstehen werden, können wir noch nicht absehen. Die Umsätze sind in den Wochen nach der Eröffnung erstmal eingebrochen. Und wenn sich dieser Trend fortsetzt, haben wir weder das finanzielle Polster noch die Nerven, um das lange mitzumachen.

Wir schicken euch diesen Brief in erster Linie als Weckruf. Mit den unabhängigen Läden geht mehr verloren als nur der Charme des Bio-Fachhandels. Es sind auch inhaltliche Werte betroffen, die gerade in der heutigen Zeit an Bedeutung gewinnen. Inhalte, die nicht ökonomisch verwertbar sind und die nur mit Solidarität am Leben erhalten werden können. Konkret auf unsere Situation bezogen: Um diesen Ort, den wir geschaffen haben, zu erhalten, brauchen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen wie die Filialisten um uns herum.

Solltet ihr uns in der jetzigen Situation unterstützen wollen oder können, kommt bitte auf uns zu. Wir bitten euch um ernst und ehrlich gemeinte Angebote. Danke fürs Lesen!

Elke Dornbach und Nadia Massi mit Team: Franziska Benkel, Johanna Gehring, Mirjam Hümmer, Jasna Kleinwächter, Franziska Kniehase, Mina Stöhr, Vanessa Puschmann und Susan Truong

Kontakt
Naturkostladen Bioase44
Karl-Marx-Str. 162
12043 Berlin
E-Mail: info@bioase44.de
http://www.bioase44.de